Geisterfahrung in konkreter Lebenserfahrung

(Karl Rahner, Erfahrung des Geistes, Freiburg 1977, S.37-45)

Der meditative Text „Erfahrung des Geistes“ von Karl Rahner zeigt exemplarisch die anthropozentrische Wende in der Theologie, bei dem versucht wird die Spuren Gottes im Menschen und die Ahnung eines Letztgültigen, in verschiedenen menschlichen Erfahrungen und letzten Fragen (nach Sinn und Ziel, nach Liebe und Schuld, nach Leid und Tod) ausfindig zu machen. Diese theologische Meditation soll und kann die Spurensuche Gottes im eigenen Leben anregen. Einige Ausschnitte des Textes von Karl Rahner:

„Bei den Hinweisen auf die konkrete Erfahrung des Geistes mitten im banalen Leben kann es sich nicht mehr darum handeln, sie einzeln auf eine letzte Tiefe hin, die eben der Geist ist, zu analysieren ... Nur willkürlich und unsystematisch herausgegriffene Beispiele sind möglich.

Da ist einer, der mit der Rechnung seines Lebens nicht mehr zurecht kommt, der die Posten dieser Rechnung seines Lebens aus gutem Willen, Irrtümern, Schuld und Verhängnissen nicht mehr zusammenbringt, auch wenn er, was ihm oft unmöglich scheinen mag, diesen Posten Reue hinzuzufügen versucht. Die Rechnung geht nicht auf, und er weiß nicht, wie er Gott darin als Einzelposten einsetzen könnte, der Soll und Haben ausgleicht. Und dieser Mensch übergibt sich mit seiner unausgleichbaren Lebensbilanz Gott oder-ungenauer und genauer zugleich- der Hoffnung auf eine nichtkalkulierbare letzte Versöhnung seines Daseins, in welcher eben der wohnt, den wir Gott nennen ...

Da ist einer, dem geschieht, dass er verzeihen kann, obwohl er keinen Lohn dafür erhält und man das schweigende Verzeihen von der anderen Seite als selbstverständlich annimmt.

Da ist einer, der Gott zu lieben versucht, obwohl aus dessen schweigender Unbegreiflichkeit keine Antwort der Liebe entgegenzukommen scheint, obwohl keine Welle einer gefühlvollen Begeisterung ihn mehr trägt, obwohl er sich und seinen Lebensdrang nicht mehr mit Gott verwechseln kann, obwohl er meint zu sterben an solcher Liebe, weil sie ihm erscheint wie der Tod und die absolute Verneinung, weil man mit solcher Liebe scheinbar ins leere und gänzlich Unerhörte zu rufen scheint, weil diese Liebe wie ein entsetzlicher Sprung ins Bodenlose aussieht, weil alles ungreifbar und scheinbar sinnlos zu werden scheint.

Da ist einer, der seine Pflicht tut, wo man sie scheinbar nur tun kann mit dem verbrennenden Gefühl, sich wirklich selbst zu verleugnen und auszustreichen, wo man sie scheinbar nur tun kann, indem man eine entsetzliche Dummheit tut, die einem niemand dankt.

Da ist einer, der einmal wirklich gut ist zu einem Menschen, von dem kein Echo des Verständnisses und der Dankbarkeit zurückkommt, wobei das Gute auch nicht einmal durch das Gefühl belohnt wird, ´selbstlos`, anständig und so weiter gewesen zu sein.

...

Da ist einer, der sich rein aus dem innersten Spruch seines Gewissens heraus zu etwas entschieden hat, da, wo man solche Entscheidung niemand mehr klarmachen kann, wo man ganz einsam ist und weiß, dass man eine Entscheidung fällt, die niemand einem abnimmt, die man für immer und ewig zu verantworten hat ...

Da ist einer, der restlos einsam ist, dem alle farbigen Konturen seines Lebens verblassen, für den alle verlässlichen Greifbarkeiten zurückweichen in unendliche Fernen, der aber dieser Einsamkeit, die wie der letzte Augenblick vor dem Ertrinken erfahren wird, nicht davonläuft, sondern sie in einer letzten Hoffnung gelassen aushält ...

Da ist einer, der merkt plötzlich, wie das kleine Rinnsal seines Lebens sich durch die Wüste der Banalität des Daseins schlängelt, scheinbar ohne Ziel und mit der herzbeklemmenden Angst, gänzlich zu versickern. Und doch hofft er, er weiß nicht wie, dass dieses Rinnsal die unendliche Weite des Meeres findet, auch wenn es ihm noch verdeckt ist durch die grauen Dünen, die sich scheinbar unendlich auszubreiten scheinen.

So könnte man noch lange fortfahren und hätte vielleicht dann dennoch gerade jene Erfahrungen nicht beschworen, die diesem und jenem bestimmten Menschen in seinem Leben die Erfahrung des Geistes, der Freiheit und der Gnade ist ...

- wo der Sturz in die Finsternis des Todes noch einmal gelassen angenommen wird als Aufgang unbegreiflicher Verheißung

- wo die Summe aller Lebensrechnungen, die man nicht selber noch einmal berechnen kann, von einem unbegreiflichen anderen her als gut verstanden wird, obwohl man es nicht nochmals ´beweisen` kann, ...

- wo man sich loslässt, ohne Bedingung und diese Kapitulation als den wahren Sieg erfährt,

- wo Fallen das wahre Stehen wird,

- wo die Verzweiflung angenommen und geheimnisvoll nochmals als getröstet ohne billigen Trost erfahren wird, ...

- wo wir im Alltag unseren Tod einüben und da so zu leben versuchen, wie wir im Tode zu sterben wünschen, ruhig und gelassen,

- wo ... (man könnte, wie gesagt, noch lange weiterfahren)

- da ist Gott und seine befreiende Gnade. Da erfahren wir, was wir Christen den Heiligen Geist Gottes nennen...Da ist die Mystik des Alltags, das Gottfinden in allen Dingen; da ist die nüchterne Trunkenheit des Geistes ...

Suchen wir selbst nach solcher Erfahrung unseres Lebens, suchen wir die eigenen Erfahrungen, in denen gerade uns so etwas geschieht. Wenn wir solche finden, haben wir die Erfahrung des Geistes gemacht, die wir meinen.“

(Text von Gustav Schädlich-Buter)