Grenzenlosigkeit

„Auf bauen wir eine Stadt und einen Turm mit der Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen ...“ (Gen11,4)

F. Steffensky berichtet davon, dass im Genfer Automobilsalon VW ein Auto mit 1000 PS und 400 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit präsentiert wurde. Durch die immens gewachsenen Möglichkeiten des Machbaren, fragen die Verantwortlichen nicht mehr nach den ethischen Folgen für das Überleben der Erde und unserer Nachkommen. „Es gibt eine Dummheit auf hohem Niveau, es ist die Denkschwäche einer hochinformierten Gesellschaft, deren Wissen detailistisch ist und keinerlei ethische Kraft enthält.“ (F. Steffensky, Mut zur Endlichkeit, Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, S.6; ein sehr lesenswertes kleines Büchlein). In einer Gesellschaft, die zunehmend ihren eigenen grenzenlosen Siegeszwängen ausgeliefert ist, ersetzt Effektivität und Gewinnorientierung den Sinn, Effekte die ethische Verantwortlichkeit und grenzenlose Aktivität die passiven Stärken und Tugenden. Langsamkeit, Stillefähigkeit, Hörfähigkeit, Wartenkönnen und Lassen haben, so Steffensky, keine großen Anhänger mehr.

Wer hört noch Kassandra`s warnenden Ratschlag: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.“ (vgl. Christa Wolf, Kassandra). Aber wehe, wenn nicht ...

Es schaudert ansehen zu müssen, wie sich unser Menschenbild mehr und mehr verändert und die „Erfolgreichen“ und „Sieger“ den Maßstab gelungen Lebens repräsentieren. Der kranke, behinderte, alte, hilflose, arbeitsunfähige, leistungsschwache Mensch behält in einer unbarmherzigen Leistungsgesellschaft kaum mehr eine Lebensberechtigung. Das christliche Menschenbild, dass der Mensch um seiner selbst willen da ist hat , also gratis, aus reiner „Gnade“ - auch dies ein immer mehr in Vergessenheit geratender Begriff - wird zunehmend außer Kraft gesetzt. Nicht einmal Kinder werden um ihrer selbst willen gesehen, sondern als „Humankapital“ für spätere Investitionen.

Die Einseitigkeit des Wahrnehmens, Denkens und Handelns wird kaum noch durch einen Glauben an einen barmherzigen Gott korrigiert. Wie soll auch ein Gott, der kein Siegergott ist und in seinem Sohn Jesus an der Seite der Opfer und „Randgestalten“ (der Gebeugten, Mutlosen, Gebrochenen, Leidenden, Behinderten oder Sterbenden steht) Resonanz finden in einer Gesellschaft der „Sieger“ (der Schönsten, Besten, Stärksten, ...)?

Mit dem Ausfall Gottes unterwirft sich der Mensch einem „Totalitätsterror“ (F. Steffensky), in der alles Begrenzte und Halbe (ein halb guter Vater, Mutter, Lehrer, Ehemann, Priester, Liebhaber; eine halb gute Ehe, Partnerschaft, ein begrenztes Glück ...) keine Akzeptanz mehr finden.

Eine zentrale Frage geistiger Entwicklung heutigen Menschseins auf allen Gebieten lautet: Wie lässt sich der Mensch zu seiner Endlichkeit befreien?

„Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein. Er ist nicht gezwungen, völliger Souverän seines Lebens zu sein.“ (F. Steffensky, a.a.O., S.20)

Wie gut täte es, an einen Gott zu glauben, der uns Menschen jenseits unserer Verwendbarkeit gern hat! Wenn wir daran glauben könnten, dass Gott uns liebt, gerade weil wir nicht perfekt, „ganz“ und unserer selbst mächtig sind, sondern bedürftig und in all unseren Lebensversuchen fragmentarisch! Wie gut täte es an eine Beziehung zu denken, in der sich der barmherzige Gott und der endliche Mensch berühren. Ein solcher Glaube hätte etwas Anarchistisches und Widerborstiges in unserem Perfektions- und Leistungsdenken; wäre Sand im Getriebe des Funktionierens und der Machbarkeit und könnte uns von allen Siegeszwängen erlösen.

Impulse

  • Welche Rolle spielen in meinem Leben „Grenzen“?
  • Welche Rolle spielt in meinem Leben Perfektionismus?

Literatur

  • F. Steffensky, Mut zur Endlichkeit, Sterben in einer Gesellschaft der Sieger, S.6; ein sehr lesenswertes kleines Büchlein, dessen Gedanken ich hier aufnehme und verarbeite)

(Text von Gustav Schädlich-Buter)