Leben

Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? Plötzlich ist man da in dieser Welt, nimmt es meist selbstverständlich als Kind und stellt keine großen Fragen, wächst heran, entwickelt sich, kämpft mit manchen Hindernissen, hat manche Last zu tragen, arbeitet, verdient seinen Lebensunterhalt, streitet sich, verliebt sich, bindet sich, einige ein Leben lang, zeugt womöglich neues Leben, ist glücklich oder unglücklich, enttäuscht oder zufrieden, auf Hilfe angewiesen oder selbstständig, übernimmt Verantwortung oder auch nicht, steht im Mittelpunkt oder fühlt sich ins Abseits geschoben, und manchmal beides in einem Leben ... und ab und zu wird einem bewusst, dass man dieses Leben wieder verlassen wird im Tod, der jedoch meist der Tod der anderen bleibt. Aber was bedeutet es, zu leben? Was ist das „Leben?

Forscher und Wissenschaftler haben keine eindeutige Antwort , an welcher Stelle Leben entsteht, an welcher Stelle der entscheidende Übergang von toter zu lebender Materie einsetzt, geschweige denn, was das ist, was wir mit „Leben“ bezeichnen.

Deshalb hören wir auf die Stimme der Dichter. Der bekannte persische Dichter Sohrab Sepheri (1928-1980) denkt darüber nach: “Was bedeutet Leben?“ Hier einige seiner lyrischen Aussagen zum Leben, die ich kurz kommentiere.

„... Ich sprach zu mir,/ das Leben ist ein großes Geheimnis, das in uns fließt./ ... Der Fluss der Welt ist in Bewegung/ Das Leben ist das Schwimmen in diesem Fluss.“

Der Dichter empfindet, dass das Leben ein Geheimnis ist, das einem Fluss gleicht. Leben hat etwas mit Fließen und Strömen zu tun. Leben ist ständige Bewegung und lässt sich in kein starres Schema einsperren. Das Gegenteil von Leben hieße dementsprechend zu erstarren, auszutrocknen und zu verhärten.

„Das Leben ist der Glaube an die Umwandlung der Zeit in Lebensgedanken.//Das Leben ist die Summe der Herzschläge.//Das Leben ist das Gewicht eines Blickes,/ der in Erinnerung fortbesteht.//“

Das Leben, so könnte man den Dichter interpretieren, hat etwas mit unserem Herzen zu tun und seiner Lebendigkeit, mit unserer Beziehungsfähigkeit und Nachdenklichkeit. Das Herz ist schon in unserem Sprachgebrauch nicht bloß ein körperliches Organ, sondern wird mit einem lebendigen Geist in Verbindung gebracht.

„Das Leben ist das vereitelte Spiel, in dem du Sachen anhäufst,/ die man nicht mitnehmen darf./ Und dabei vergessen wir, was unsere Wegzehrung ist.“

Leben und Lebendigkeit, „Sein“ entzieht sich dem Haben und Habenwollen. Leben zeigt sich nicht in der Vergrößerung unseres Besitzes, unseres Wissens, unserer gesteigerten Leistungsfähigkeit. Doch was hält uns wirklich am Leben und ist uns Nahrung und „Wegzehrung“ auf der Lebensreise?

„... Das Leben ist die Gelegenheit für eine Erfahrung.//Damit es alle wissen,/ solange es die Geburt gibt, kann gesagt werden, / dass Gottes Hoffnung auf Befreiung der Menschen besteht.//Das Leben ist das höchste Zeichen für das Grüne/ in den Gedanken eines Blattes.//Das Leben ist die Sehnsucht eines Wassertropfens nach Meer/ in der Stille des Flusses.// ... Das Leben ist der Glaube eines Fisches an das Meer,/ gefangen in einem Glas.// Das Leben ist das leuchtende Abbild der Erde/ im Spiegel der Liebe.//“

Das Leben scheint der Dichter zu sagen, ist eine Chance, Erfahrungen zu machen, ist eng verbunden mit Geburt, Wachstum und der Erde, mit einer Hoffnung, die über bestehende Zustände in die Freiheit hinausweist, mit einer Sehnsucht nach etwas Größerem, mit Liebe.

„Das Leben ist das Begreifen des Unbegreiflichen.// Das Leben ist ein offenes Fenster zum Universum.// Solange dieses Fenster offen ist, ist die Welt mit uns,/ sind Himmel, Licht, Gott, Liebe und Glück mit uns. /Verpassen wir nicht die Chance,/wenn dieses Fenster offen steht.// Schlagen wir dem Lichte die Tür nicht zu“

Das unbegreifliche Leben zu berühren, gehört zu unserer Lebendigkeit und zu unseren Lebensaufgaben; aber dazu müssen die Fenster offenstehen und wir mit den Fühlern unserer Seele hinausspüren in das große Universum und das Licht und den „Himmel“ in uns einlassen, um zu hören:

„//... Das Leben ist der reine Gesang des Lebendigen/ zwischen zwei Stillen.“

Impuls

  • Lesen Sie das Gedicht von Sepheri ohne Kommentare und lassen Sie es auf sich wirken.
  • Gehen oder fahren Sie in die Natur (Wald, See, Fluss, Brunnen..), spüren Sie die Stille , die Sonne, das Rauschen der Blätter oder des Flusses… und sagen Sie immer wieder das Wort „Ich lebe“.

(Text von Gustav Schädlich-Buter)