Selbstwert zwischen Urvertrauen und Urangst

Das Selbstwertgefühl hat mit einem Gespür für den unbedingten Wert und die einmalige Würde der eigenen Person zu tun. Um ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss das Kind Urvertrauen entwickeln.(vgl. E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1966)

Das kleine Kind muss von seiner Mutter spüren, dass es willkommen, geliebt, angenommen ist und auf die Verlässlichkeit seiner Eltern bauen kann. Dabei ist die Frühform der Liebe und des Geliebtseins (ein Baby hat ja noch kein ausgebildetes und bewusstes Ich) ebenso wie noch ältere Erfahrung des „in Ordnung Sein`s“ nicht an Leistungen gebunden. Solche Liebeserfahrung vermittelt die Ahnung umfassender Liebe (als eine allen Geschöpfen innewohnende Weise des Bezogenseins) und umfassenden Glücks. Die verinnerlichte Erfahrung behütet, geborgen und geliebt zu sein, gehört somit zur Quelle des menschlichen Urvertrauens. Bildersolcher Erfahrungen finden wir in Bildern wie „die Hand, die mich schützt“, „das Mutterhaus“, „der Schutzmantel“ oder die „Höhle“. (vgl. dazu M. Renz, Zwischen Urangst und Urvertrauen, Therapie früher Störungen ..., Paderborn 1996).

Ohne Vertrauen ins Leben kann ein Mensch keine Ich-Identität ausbilden, die das Gefühl ausmacht, dass die verschiedenen Bereiche des Lebens zu einer inneren Einheit gehören. Ein Mensch ohne Urvertrauen findet den roten Faden in seinem Leben nicht. Er bleibt einem tyrannischen Gewissen (Über-Ich Dressate) ebenso ausgeliefert wie seinen Triebstrebungen. Viele frühkindliche Persönlichkeitsstörungen (Narzissmus, Borderline, Autismus, ...) haben einen frühkindlichen Ursprung, wo sich statt Urvertrauen Urangst der Existenz bemächtigt hat. (Exkurs: Frühgestörte Menschensind Menschen, die in ihrer frühesten Entwicklung irritiert, gestört oder übermäßig verängstigt wurden; sie haben in irgendeiner Weise ein Zuviel oder Zuwenig, Mangel oder Gewalt erfahren. Der so Leidende ist an seine eigene Frühzeit fixiert; Frühgestörte sind in die Extreme des Anfangs fixiert, an die Gefälle von Allmacht und Ohnmacht, behaftet mit einer Scham, überhaupt zu existieren. Frühgestörte Menschen erleben sich wie abgenabelt von der Liebe, die einfach liebt, vom Boden, der einfach trägt, von den Quellen der Lebenslust. Aus dem permanenten Mangel wird Sucht, Kompensation und der Zwang „normal“ zu sein.: vgl. dazu L. Riedel (Hg.), Normalität und Wahnsinn, M. Renz , S.243-262)

Diese Urangst liegt den unzähligen Nöten und vielfältigen Angstformen zugrunde .In der Urangst ist das ganzheitliche Einssein verlorengegangen und der Mensch fühlt sich fremd, verlassen, heimatlos und einsam (vgl. Die Winterreise von Franz Schubert als musikalischer Ausdruck solch existentiellen Grundgefühls). Bilder für diese Erfahrungen könnten sein: die Wüste, die karge Natur, vor Hunger ausgemergelte Gestalten, der durchlöcherte Boden, das abgrundtiefe verschlingende Loch ... (vgl. dazu Renz, Zwischen Urangst und ... a.a.O., S. 142 f.) Das vorher bergende Umfassende und Ganze ist für das innere Erleben bedrohlich, gewalttätig und abgründig geworden. Auch Traumata der späteren Kindheit wie anhaltende Verlassenheit, sexuelle Misshandlung, Kriegsnot verhindern eine natürliche Vertrauensbasis. Dabei bleibt aber das traumatische Erleben vom Bewusstsein abgespalten und wirkt untergründig wie verwünscht und vergiftend; es ist da ohne da sein zu dürfen und kann in Worten oft nicht fassbar gemacht werden.

Wer dagegen zur Ich-Identität gefunden hat, ist laut E. Erikson fähig zur Intimität und Fruchtbarkeit, die sich in Kindern oder einem anderen schöpferischen Handeln ausdrückt.

Für die Entstehung eines guten Selbstwertgefühls braucht es ein Gespür für die Einmaligkeit der eigenen Person vor allen möglichen Leistungen und angeborenen Begabungen. Das Kind spürt, dass es von seinen Eltern geachtet und in seinen Gefühlen respektiert wird. J. Bradshaw hält die Verletzung der besonderen, einmaligen Kostbarkeit eines Kindes(z.B. durch ständige Abwertung, Kritik oder Übergriffigkeit ...), die sich im Satz ausdrückt „Ich bin, wer ich bin“ für die spirituelle Verletzung schlechthin. Sie sei die Ursache dafür, dass „aus uns unselbstständige, schamerfüllte erwachsene Kinder werden“ (J. Bradshaw, Das Kind in uns, München 1992, S.66) Die meisten Kinder aus gestörten Familien wurden dann am meisten verletzt, wenn sie am bedürftigsten waren. Viele reagieren darauf, indem sie sich innerlich verschließen, sich aus Trotz einreden, man habe Liebe nicht nötig und machen sich durch ihre Verzweiflungsreaktionen hart und rigide in ihrem Handeln. Menschen ohne Selbstwert neigen zu Rigorismus mit der sie die Angst bekämpfen, nicht wert zu sein.

Zu einem gesunden Selbstwertgefühl gehört auch die Aussöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte und der Wille, dafür Verantwortung zu übernehmen. Dabei wollen auch die Schwachstellen und Schattenseiten der eigenen Person in den Blick genommen werden. Selbstbewusstes Imponiergehabe und selbstsichere Präsentation geraten jäh ins Wanken, wenn manche Personen an ihre Schwachstellen kritisiert.

Die Frage nach dem Selbstwert ist immer auch eine religiöse Frage.

Wenn Selbstbild und Gottesbild zusammenhängen und das tun sie, dann besagt das Bild des dreifaltigen Gottes, der in seinem Innersten Beziehung und Liebe ist, etwas über unser Personsein. Gott ist ein Gott der Liebe und er zeigt diese Liebe den Menschen, indem er seinen einzigen Sohn in die Welt sendet und uns Menschen schenkt Wenn Gott uns so liebt, dass er selbst Mensch wird, dann können wir nicht unbedeutend sein; dann spüren wir in dieser Beziehung zu ihm, unseren Wert und unsere Würde. Im Nachdenken über Gott, erfahren wir so etwas über die Würde und den Wert der eigenen Person. Der Glaube will uns zeigen, woher wir unseren unbedingten Wert bekommen: wir sind von Gott bedingungslos angenommen und er sagt zu jeder und jedem von uns: “Du bist meine geliebte Tochter“ „Du bist mein geliebter Sohn!“ (Mk 1,11) Diese Botschaft will in der Tiefe gespürt und wahrgenommen werden. Es ist ein langer Weg aus der Wirklichkeit eines solchen Glaubens zu leben und ihn als stärker zu erfahren als alle Selbstbeschuldigungen, Selbstbeschimpfungen und Entwertungen, die uns sonst prägen.

(Text von Gustav Schädlich-Buter)