Thesen zur Begleitung von Schuldgeschichten im Gespräch

(vgl. von Karl Ernst Apfelbacher/ in: J. Kuric, Josef Raischl (Hg.), nahe sein, loslassen , Spirituelle Erfahrung in der Begleitung von Sterbenden. Eine Zusammenfassung des Aufsatzes „Schuld und Trauer..“ „Schuld und Trauer- Im Leiden Hoffnung finden?“ zusammengefasst von Gustav Schaedlich-Buter)

Einführung

Wenn ein Mensch an die Grenzen seines Lebens stößt, wenn er seine Gebrechlichkeit erlebt, durch Krankheit aus seinem vertrauten Lebenslauf herausgerissen wird, wenn der Tod vor seine Augen tritt, dann meldet sich meist stärker als bisher das Bedürfnis, mit seinem Leben ins Reine zu kommen. Dann sieht derjenige deutlicher, was im Leben schief und anders gegangen ist, als man gehofft hat und spürt deutlicher den inneren Unfrieden und die Belastung, weil man Schuld nicht vergeben hat und weil einem Schuld nicht vergeben worden ist.

Einige Thesen zur Frage der Schuld

1. Schuld ist eine Frage der Beziehung

Schuldig werde ich immer in Beziehung zu einem anderen, also wenn ich jemanden kränke, verletze oder ihm etwas schuldig bleibe. Die Frage nach Schuld ist eine Frage nach Beziehungen, in denen ich stehe, mich bewege und lebe.

Die Frage der Schuld lässt sich nicht klären, wenn man Tatbestände aufzählt und sich gegenseitig vorwirft, sondern wenn man wieder miteinander ins Gespräch kommt.

Das lateinische Wort für Versöhnung ist reconciliatio; das Verb reconciliare heißt „miteinander wieder ins Gespräch kommen“.

2. Niemand kann unschuldig bleiben

Wir brauchen diese Einsicht, um kreativ und lebendig zu bleiben. Es gibt viele Leute, die vor lauter Angst schuldig zu werden wie gelähmt im Leben sind. Die Vorstellung, man könnte schuldlos durchs Leben kommen, gilt in allen christlichen Traditionen als Häresie. Wer verbissen unschuldig bleiben will, verdrängt einen wesentlichen Aspekt seines Menschseins und maßt sich an, wie Gott sein zu wollen.

Gefordert ist lediglich, dass wir uns der Schuld, die wir auf uns geladen haben durch Unterlassung, Unachtsamkeit, Dummheit oder Bosheit stellen und sie tragen. Dazu ist uns Gottes Zuneigung, seine Liebe und sein Erbarmen zugesagt; und daraus entsteht Versöhnung und Frieden und Hoffnung.

Geh – ermutigt durch die Barmherzigkeit und die Liebe Gottes - mit der Schuld aufmerksam und wahrhaftig um.

Der nagende Zweifel von Schuldgefühlen in Verbindung mit diesem „Hätte ich doch ...“, dieser Irrealis der Vergangenheit, ist eine teuflische Einflüsterung, die einem vorgaukelt, man hätte im Leben alles richtig machen können. Dadurch wird ebenso viel Lebensenergie verschwendet wie durch die Versuche der Ausreden, Entschuldigungen und Selbstbeschwichtigungen durch die nichts besser und heiler wird.

Es geht letztlich um die Freiheit, mit den Miseren des Lebens so umzugehen, dass Heil daraus entsteht. Wir sind auf Vergebung, Huld (indulgentia) anderer angewiesen und müssen lernen uns den anderen mit all unseren Begrenzungen zu öffnen und anzuvertrauen. Dann können wir auch offener werden für die Frage: Was ist jetzt und in Zukunft dran zu tun?

3. Man kann Schuld nicht ungeschehen machen

Schuld kann man nicht ungeschehen machen, durch keine Beteuerungen und mit dem besten Willen nicht (z.B. Untreue, Ehebruch); Schuld muss verarbeitet werden, damit sie Heilung und Vergebung finden kann.

Die entscheidende Frage angesichts von Schuld ist nicht vergangenheitsorientiert („Hättest Du doch ...“ oder „Schwamm drüber!“), sondern auf Zukunft gerichtet: „Was sollen wir tun?“ „Was fangen wir mit der Schuld an?“ Gibt es eine Heilung der Wunde?“

Heilungsprozesse können lange dauern und sind Wege der Schmerzen und durch Schmerzen hindurch.

4. Schuld drängt darauf, dass man sie anschaut, erkennt und bekennt

Wer seine Schuld bloß mit sich alleine abmachen will, wird leicht verschlossen, innerlich lahm, starr und unbeweglich. Schuld drängt darauf einem anderen erzählt zu werden, sogar eine Schuld, die nur mich selbst zu betreffen scheint; jemand, der sie mit-trägt ohne mich zu verachten und mit Ratschlägen knechtet.

Wer schuldig geworden ist spürt einen Zwiespalt: einerseits die Scham und die Angst, das Gesicht zu verlieren, andererseits das Bedürfnis, wahrhaftig gesehen zu werden, wie ich bin.

Manchmal dauert es lange, bis man jemanden findet, dem man von seiner Schuld erzählen kann, sie neu anschauen kann und suchen kann, wie man mit ihr Hoffnung schöpfen und Mut fassen kann.

Gespräche über Schuld

1. Die Gesprächspartner müssen auf der gleichen Ebene sein

Es gilt eine Ebene zu finden, auf der keiner über- oder unterlegen ist. Für die Begegnung von gleich zu gleich, gilt es sich drei Dinge zu vergegenwärtigen:

  1. Die Ehrfurcht vor der göttlichen Würde des anderen. Jeder Mensch ist unendlich kostbar; auch dann, wenn ich wütend auf seine Unarten und Untaten bin. Viel Schuld entsteht nämlich dadurch, dass Menschen das Bewusstsein ihrer Würde verloren haben, ihr Selbstwertgefühl und es gilt ihnen dazu wieder einen Zugang zu eröffnen.
  2. Ich gehe davon aus, Schuldgeschichten sind Leidgeschichten
  3. Ich mache mir klar: Ich habe dem anderen, der schuldig geworden ist, im Grunde nichts voraus. Es gibt keinen Grund mich für überlegen zu halten.

Ich kann den anderen nicht trösten, wenn ich mir selbst und dem anderen nicht eingestehe, dass auch ich trostbedürftig und hilfsbedürftig bin. Nur wer mit seinen eigenen Schwächen vertraut ist, kann eine „Schwäche für andere“ haben.

2. Beschwichtige nicht, entschuldige nicht

Wenn der andere von seiner Schuld erzählt (vielleicht stockend, suchend..) und sich selbst klar zu werden versucht, macht es keinen Sinn, ihm ins Wort zu fallen, ihm die Schuld auszureden und zu beschwichtigen. („Halb so schlimm..!“) Der andere will mit seinem Schulderleben ernst genommen werden. Der andere sehnt sich nicht danach, dass ihm die Schuld weggeredet wird, sondern dass sie geheilt wird in Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit.

3. Wie hört man zu? - „Schwebende Aufmerksamkeit“

Es gilt nicht nur zu hören, was da an Schuld, Versagen, Kränkung...passiert ist, sondern auch was da an Leid, Schmerz, Enttäuschung, aber auch an Treue, Tapferkeit und Liebe zum Vorschein kommt. Wer mit sich selbst wahrhaftig umgehen will, der muss beides sehen: nicht nur die Schuld und Sünde, sondern auch „was du Gutes getan und was du Schlimmes ertragen hast.“

4. Die zentrale Frage: Wie willst du weiterleben?

Die Vergangenheit kann ich nicht ändern, aber das Anschauen der Schuld soll Zukunft und Leben eröffnen. Die entscheidende Frage lautet: Wie kannst und willst du künftig mit deiner Lebensgeschichte zuversichtlich leben? Entscheidend für den Begleiter: „Wie möchtest Du?“ (nicht wie denke ich) Biblisch: „Was wollt ihr, dass ich euch tue?“ (Mt. 20,32)

Als Begleiter ertappt man sich leicht, wie man seine eigenen Wünsche anderen einreden will, und wie man gekränkt ist, wenn der andere die guten Ratschläge nicht annehmen will. Aber: Gott ist es, der Zukunft und Hoffnung gibt. Also: keine Ratschläge- keine Besserwisserei!

Die Heilung von Schuld

1. Der Weg der Versöhnung kann ein langwieriger sein

Vergebung der Schuld kann ein langer Weg sein voll innerer Kämpfe. Schuld ist wie eine Wunde, die geheilt werden will und das geht nicht mit schnellen guten Vorsätzen.

Die Beichte, der Zuspruch der Vergebung, die sakramentale Lossprechung ist ein Symbol. Es kann ermutigen sie im Lichte der Barmherzigkeit Gottes zu sehen.

Aber die Wege kann sie nicht ersetzen.

Angesichts des Todes, wenn keine langen Trauerwege mehr möglich sind, dann heißt die entscheidende Frage: „Kannst du loslassen? Kannst du den anderen zutrauen, dass sie deine Vergebung annehmen und dass sie dir vergeben werden.

„Vater in deine Hände lege ich meinen Geist und alle, die mir am Herzen liegen.“

2. Der Versöhnungsweg hat Ähnlichkeit mit Trauerprozessen

Trauer entsteht, wenn es einen Verlust zu verarbeiten gilt: Krankheit, Tod, Ehescheidung, Loslassen der Kinder, Verlieren der Unschuld, Abschied von einem schuldlosen Selbstbild und Leben.

Die Vergebung der Schuld ist ein Vorgang, der einem Trauerprozess ähnlich ist und mit Trauerarbeit verbunden ist.

Fünf Phasen solcher Prozesse sind zu benennen (vgl. E. Kübler -Ross; V. Kast)

  1. Verleugnen des Geschehenen und der Schuld
  2. Ein Chaos von Gefühlen bricht auf (Wut, Bitterkeit, Selbstmitleid, Trauer, Angst..); biblisch: es „drehen sich die Eingeweide um“
  3. „Verhandeln“: Was ist eigentlich geschehen? Bin ich wirklich schuld?
  4. „Suchen, sich trennen, sich öffnen“: man wird sich klar über die Schuld und die Folgen; man wird vertraut mit der Not des Lebens; es wird einem bewusst, wie bedeutsam es ist, zu vergeben und sich vergeben zu lassen, barmherzig zu sein mit sich selber und zulassen, dass andere mit einem barmherzig sind.
  5. „Sich zurechtfinden“: innere Ruhe, Gelassenheit und Kraft finden.

Solche Wege der Trauer und der Heilung von Schuld haben ihre eigene Dynamik: Man kann sie begleiten, aber nicht mutwillig abkürzen. Durchgearbeitete Schuld kann zur „glücklichen Schuld“ werden, von dem der Lobpreis der Osternacht spricht.

(Text von Gustav Schädlich-Buter)