Über das Vaterunser

(Die hier vorliegenden Gedanken zum Vaterunser sind inspiriert von Anselm Grün: „Vaterunser“, Geschenkheft Münsterschwarzach 2010 (in der Bitte „Erlöse uns von dem Bösen" nahezu vollständig übernommen), von Norbert Lammerts Neuformulierung des Vaterunser-Gebetes und von Peter Sardys kleinem Aufsatz über die Versuchungen)

Biblischer Text

Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde. Gib uns heute das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matthäus 6, 9-15)

Neuformulierung von Norbert Lammert

"Unser Vater im Himmel! / Groß ist dein Name und heilig. / Dein Reich kommt, / Wenn dein Wille geschieht, / Auch auf Erden. / Gib uns das, was wir brauchen. / Vergib uns, wenn wir Böses tun und Gutes unterlassen. / So wie auch wir denen verzeihen wollen, / Die an uns schuldig geworden sind. / Gib uns Kraft, wenn wir schwach sind. / Und mach uns frei, wenn es Zeit ist, / Von den Übeln dieser Welt. / Denn Dein Reich ist herrlich und ewig durch die Kraft der Liebe. / Amen."
(Neufassung des Vaterunser Gebetes von Norbert Lammert; für Chöre vertont vom Komponisten Stefan Heucke)

Einführung ins Gebet

Das Vater Unser Gebet ist das bekannteste Gebet der Christen. Es ist leider für viele Glaubende leer und inhaltslos geworden, man spricht es routiniert ohne großes Nachdenken…. Das ist schade, weil dieses Gebet, das Christen auf der ganzen Welt verbindet, uns stärken und formen will. Im Neuen Testament finden wir das Vaterunser sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus, in deren jeweiliger theologischen Deutung. „ Das Gebet des Herrn, so wie Matthäus es verstanden hat, will uns zu einem neuen Tun herausfordern: zu einem Tun, das für die ganze Welt heilsam ist und das den Riss, der die Menschen voneinander trennt, überbrückt und heilt.“ (Anselm Grün, „Vaterunser“. Geschenkheft Münsterschwarzach 2010, S.5) Nicht umsonst steht dieses Gebet in der Mitte der Bergpredigt und deren Herausforderungen.

Viele Menschen heute wissen nicht mehr richtig wie sie beten sollen. Die Worte von bereits formulierten Gebeten kommen ihnen leer, inhaltslos, unverständlich und fremd vor.

Was meint Beten überhaupt?

Im Gebet richten wir unser Herz- d.h. unsere Liebe, unsere Sinne, unsere Aufmerksamkeit auf Gott. Wenn wir beten, geben wir zu, dass wir es alleine nicht schaffen, dieses Leben zu bestehen und all die Krisen des Lebens zu bewältigen…, dass wir Gottes Hilfe, Gottes Schutz, Gottes Kraft brauchen.

Beten heißt einsehen und eingestehen: es liegt weitgehend nicht in meiner Macht, dass es mir gut geht und dass ich mein Leben als sinnvoll empfinde. Sinn und Glück in meinem Leben (die ich z.B. in liebevollen Beziehungen oder der Natur spüren kann) sind mir immer geschenkt, letztlich von Gott, d.h. von einer größeren, mich übersteigenden Wirklichkeit, einem Geheimnis, das mich umgibt und dass ich spüren und erahnen kann, wenn ich mich dafür öffne.

Jesus lehrt die Menschen beten, indem er sie zuvor warnt ihr Gebet zur Schau zu stellen und viele Worte zu machen; wir sollen nicht „plappern“, denn Gott weiß, was wir brauchen. (vgl. Mt 6, 5-8)

„Vater Unser im Himmel“

Das Erste, was Jesus uns lehrt ist, dass wir zu Gott Vater sagen dürfen. Abba (aramäisch; die Sprache Jesu) bedeutet:lieber Vater, Papa. So zärtlich und liebevoll dürfen wir Gott anreden. Wahrscheinlich hätte Jesus auch keine Probleme, wenn er in unserer Zeit leben würde, Gott als liebe Mama anzurufen. Nicht das Geschlecht ist ausschlaggebend - das scheint zeitbedingt, sondern es geht darum, eine tiefe persönliche Beziehung zu Gott zu entwickeln wie man sie eben als Kinder zu einem herzensguten Vater oder einer liebevollen Mutter entwickeln kann. Gott erkennen wir nicht durch Nachdenken, sondern durch Reden mit ihm, indem wir eine innere Beziehung zu Ihm aufbauen. Und dieser Vater ist der Vater aller Menschen (sogar jener, die wir nicht besonders mögen) und kein Privatbesitz. Deswegen Vater Unser, eine Anrede, die Solidarität mit allen Menschen mit einschließt, besonders mit den Armen, Notleidenden und Ausgeschlossenen.

„Dein Name werde geheiligt“

heißt es dann weiter; damit ist gemeint, dass wir den Namen Gottes ehren und achten sollen, dass wir das Wort Gott nicht anstelle des eigenen Egos setzen und für unsere Zwecke missbrauchen sollen; der Name Gottes soll durch unser Leben nicht für oberflächliche Wünsche oder Ideologien eingesetzt werden; im Namen Gottes dürfen keine Kriege geführt werden auf der Koppel der deutschen Soldaten stand noch „Gott mit uns“ ; der Name Gottes darf auch nicht für Terrorismus und heilige Kriege herhalten.

Zudem ist der Name Gottes für fromme Juden unaussprechbar. Durch seine Heiligkeit und Größe entzieht sich Gott auch immer wieder unserem Begreifen und Verstehen. Wir können ihn nicht festlegen mit unseren Worten und Begriffen.

Im Alten oder Ersten Testament wird der Gottesname nur einmal ausgelegt als der „Ich bin der ´Ich-bin-da`“ oder „Ich werde da sein als der ich da sein werde.“(vgl. Exodus 3, 14) Indem ich mich auf diesen Namen einlasse und mich von ihm formen lasse, indem ich wie jener für andere da bin, mache ich Gottes Heiligkeit in der Welt sichtbar. Gott will durch unser Leben verherrlicht werden. (Johannes Chrysostomos)

„Dein Reich komme“ und „Dein Wille geschehe“

Damit ist gemeint, dass die Wirklichkeit Gottes in der Welt sichtbar werden soll. Der Bundestagspräsident Lammert formuliert das Vater Unser Gebet in seiner Neufassung, die für Choräle vertont wurde, wie folgt: „Dein Reich kommt, wenn dein Wille geschieht.“ Gottes Wille zielt auf eine Welt, die gerecht für alle Menschen ist. Es geht in dieser Bitte um eine Umkehrung der Verhältnisse. Die Tyrannen und „Herren“ dieser Welt sollen im Reich Gottes nicht das letzte Wort haben. Das könnte den Herren der Welt so passen, wenn alles so ungerecht bliebe wie es ist, schreibt Kurt Marti sinngemäß in einem seiner provokativen Gedichte (vgl. Kurt Marti, Leichenreden Frankfurt am Main 1989, S.63) Gottes Wille zielt auf eine gerechte und solidarische Welt, in der die materiellen und geistigen Güter gerecht verteilt sind und für alle zur Verfügung stehen. Das Reich Gottes lässt sich wie bei Matthäus (er spricht von der basileia tou theou (griech.)/ vom Himmelreich) räumlich verstehen als Haus, in der alle Menschen menschenwürdig leben können. Aber weil diese konkrete Welt in weiten Zügen noch so gar nicht dem Willen Gottes entspricht, ist die Bitte „dein Reich komme“ auch eine Bitte von Gott Kraft zu bekommen, um sich für eine gerechtere Welt einsetzen und engagieren zu können. In der Tiefe des Angefordertseins und Engagements stimmen Gottes Wille und menschlicher Wille überein. Menschen wie Martin Luther King sind für den Traum der Gleichheit, der gleichen Rechte für alle Menschen aufgestanden, auch wenn sie diesen Einsatz mit dem irdischen Leben bezahlt haben.

Gottes Wille zielt aber nicht nur auf eine gerechtere Welt, sondern auch auf eine heilere Welt (vgl. 1 Thess 4,3), in der die barmherzige Liebe Gottes die Wunden der Menschen und der ganzen Welt (die Gebeugten werden aufgerichtet, die Gefangenen befreit, die Trauernden werden getröstet….) heilt. Heilung bedeutet auch, dass eine freimachende Liebe die dunklen Mächte und „Dämonen“ (Komplexe, Zwänge, Traumata, Süchte, destruktive Lebensmuster…), welche unsere Seelen beherrschen können, in ihrer Einflusskraft schwächt oder sogar besiegt. Im Nahekommen und Einwirken der göttlichen Liebe, welche für Christen durch Jesus Christus (seine Worte und Taten) spürbar geworden ist, kann der Mensch selbst immer mehr zum Bilde Gottes werden, kann sich die ganze Schöpfung erneuern. Doch das Nahekommen Gottes verlangt auch – wie es bei Markus heißt - eine menschliche Reaktion: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) „Wenn Gott uns nahegekommen ist, dann müssen wir die Welt und uns selbst mit anderen Augen ansehen. Wir sollten tiefer hineinschauen und überall in der Welt Gottes Herrschaft erkennen. Wir sollen an die frohe Botschaft Jesu glauben.“ (Anselm Grün, Vaterunser. Geschenkheft Münsterschwarzach 2010, S.14)

„Unser tägliches Brot gib uns heute“

Mit der Bitte um Brot hatte Jesus die Armen Israels im Auge. Diese Bitte ist für die meisten Menschen der Industrieländer keine ernsthaft vitale Bitte mehr, auch wenn es noch genügend Menschen geben mag, die zu wenig haben, um ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Doch sehr viele Menschen haben mehr als sie brauchen und es wurden wohl noch nie so viele Lebensmittel weggeworfen wie heute. Mit Recht weist Norbert Lammert daraufhin, dass, soll diese Bitte für Betende der reichen Länder heute noch Sinn ergeben, eine Neuformulierung sinnvoll ist in: „Gib uns das, was wir brauchen.“ Das meiste, was wir Menschen in der Wohlstandsgesellschaft haben, brauchen wir nämlich nicht wirklich. Insofern kann uns diese Bitte vor die Frage stellen: Was brauche ich wirklich? Was nährt mich und lässt mich in einem tieferen Sinn leben? In der Bitte steckt auch das Wörtchen „täglich“-, gemeint ist also das, was ich letztlich nicht horten und auf Vorrat anlegen kann. Jeder Tag zeigt mir aufs Neue, was ich brauche.

„Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben ...“

Die Vergebungsbitte ist eine harte, dornige Übung, ein Stachel in unserem Fleisch. Mag es noch leicht sein an die Vergebung Gottes unserer Schuld zu glauben, - Norbert Lammert formuliert es in seiner Neufassung so: „Vergib uns, wenn wir Böses getan und Gutes unterlassen haben...“ - so fällt es uns doch in der Regel äußerst schwer Menschen zu vergeben, die uns verletzt, gekränkt oder gedemütigt haben. Wenn wir das Vaterunser beten, zeigen wir unsere willentliche Bereitschaft zu vergeben, auch wenn wir es in der Tiefe noch nicht können. „Wir sollen uns mit der Vergebung auch nicht überfordern. Es braucht oft lang, bis wir aus ganzem Herzen vergeben können. Wir müssen zuerst den Schmerz zulassen und betrauern“ „(A. Grün, a.a.O., S. 21) Doch wer vergeben und verzeihen kann, wer die Bitte von Schuldnern um Vergebung annehmen kann, erlebt Befreiung und wird von negativen Energien, die ihn binden und um die Verletzung kreisen lassen, erlöst.

„Und führe uns nicht in Versuchung“

Dies ist die wohl am schwierigsten zu verstehende Bitte des Vaterunser Gebetes. Will Gott uns und unseren Glauben prüfen, indem er uns in Extremsituationen führt wie Abraham oder Hiob? Der Jakobusbrief (vgl. Jak 1, 13f ) gibt darauf eine eindeutige Antwort: nein, es ist nicht Gott, der uns in Versuchung führt. Vielmehr sind es unsere eigenen Begehrlichkeiten oder Schwächen durch welche wir versucht werden. Gott selbst bewirkt nicht die Versuchung zum Bösen, er will unser Heil.

Der jüdische Gelehrte Pinchas Lapide weist daraufhin, dass bei einer Rückübersetzung aus dem Griechischen das hebräische Wort für „bringen“ oder „führen“ im Deutschen auch „kommen lassen“ bedeutet, was dann folgende Übersetzung ergeben würde: Lass uns nicht in die Macht der Versuchung kommen oder „Lass uns der Versuchung nicht erliegen.“(vgl. Peter Sardy, „Führe uns nicht in Versuchung“- Vertrauen in Prüfungen, Internetartikel). Das würde bedeuten, wenn wir in eine Versuchungssituation geraten sind, dann zeig uns den Weg zurück ins Leben ; führe uns aus dem Schlamassel heraus, führe und bewahre uns in der Versuchung. So formuliert, steht die Überzeugung im Hintergrund, dass Gott unser Heil und Heilwerden will und kein Interesse daran hat, uns in Versuchungen zum Bösen zu stellen.

Peter Sardy weist auch daraufhin, dass Jesu Rede von Versuchung nicht auf sündhafte Verfehlungen im geläufigen Sinn zielt; Versuchung ist eine Verunsicherung des Vertrauens in Gott und seine Liebe, auch angesichts dessen, was uns in der Welt widerfahren kann an Hass, Gewalt und Zerstörung.

„Erlöse uns von dem Bösen“

Ohne Zweifel existiert das Böse in der Welt und gleich ob wir es als eigenständige personale Macht (die Bibel spricht vom Satan oder Teufel) verstehen oder eher allgemein als böser Trieb von Individuen, als Verblendung, als in die Irre laufen, als sinnloses Leiden und Drangsal, als gefühllose Gleichgültigkeit, als strukturelle Sünde ... so betrifft es jeden von uns in der Tiefe unseres eigenen Inneren. „Unser Denken ist vom Bösen gleichsam infiziert. Wir werden in eine Welt hineingeboren, in der das Böse manchmal wie ein Sog ist, der uns mitreißt. Die Befreiungstheologie sieht das Böse in den Strukturen dieser Welt. Ungerechte Strukturen verfestigen das Böse. So gibt es Strukturen des Bösen, die den einzelnen beherrschen und bestimmen. Die Psychologie bestätigt uns die Macht des Bösen. Das Böse hat sich oft so tief ins Unbewusste eingeprägt, dass wir uns kaum davon distanzieren können…Oft rührt das Böse aus Verletzungen der Kindheit. Weil wir keine Möglichkeit finden, diese Verletzungen aufzuarbeiten und zu heilen, agieren wir sie aus. Wir geben die Gewalt, die wir erfahren haben, an andere weiter.“ (A. Grün, a.a.O., S. 26)

Der Psychiater Albert Görres weise, so Grün, darauf hin, dass wer in der Tiefe verletzt ist, seine Rechnungen bei den falschen Schuldnern begleicht. Er behandelt die böse, die gar nichts mit dem Bösen zu tun haben, welches er selbst erlitten hat. So geschähe es, dass sich das Böse in der Welt immer mehr ausbreiten könne.

Die lateinische Formulierung dieser Bitte heißt „libera nos a malo“ - also befreie uns von den Übeln dieser Welt (griech.: entreiße uns dem Bösen) - stellt die Befreiung aus den Verstrickungen in die Übel dieser Welt noch einmal eindrücklich heraus. Dabei geht es sowohl um die individuell - persönlichen Verstrickungen als auch um die Strukturen des Bösen, in welche wir manchmal ohne unser Zutun verwickelt sind. In dieser letzten Bitte wird sowohl unsere Angst wie unsere Trauer sichtbar, den Gefährdungen des Lebens nicht standhalten zu können und auf die Rettung durch Gott selbst angewiesen zu sein.

Abschluss

Das Vaterunser ist ein Gebet mit schier unergründlicher Tiefe und Weisheit. Wer es betet, kann in den Geist Jesu hineinwachsen, dessen intensive Beziehung zum Vater es wiedergibt. Wer das Vaterunser betet kann sich davon in seiner Seele, in seinem Denken und Handeln formen und verwandeln lassen

(Text von Gustav Schädlich-Buter)