Vergeben

Eine junge Iranerin Ameneh Bahrami verzichtete auf ihr nach islamischem Gesetz zugestandenes Recht, dem Mann, der sie durch ein Säureattentat entstellt hatte, dasselbe anzutun, mit der Begründung, sie tue es nicht „wegen Gott, für mein Land und für mich selbst.“

Den tödlichen Kreislauf von Hass, Vergeltung und neuerlicher Gewalt zu durchbrechen, gelingt den wenigsten. Der Wunsch nach Rache , der mit gleicher Münze zurückzahlen will, sitzt tief. Zumeist erweist er sich stärker als die Bereitschaft zu vergeben. Es ist eine bittere Erfahrung von uns Menschen, sowohl im politischen wie im privaten Bereich, dass Verletzen, Schlagen und Zurückschlagen sich als gängiger erweisen als darauf zu verzichten. Wie schwer und mühsam es sein kann, zu vergeben, aufzubauen und zu heilen, haben uns zwei Weltkriege gelehrt.

Jeder weiß wie schwer es ist, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten. Aber auch einem Anderen, der sich versöhnen möchte, zu vergeben, kann schwerfallen. Dabei kann es durchaus Lust bereiten, unversöhnlich zu bleiben; denn auf dem moralisch rechtschaffenen Podest, bleibt man seinem Schuldiger durchaus überlegen und hat Munition für den eigenen Angriff.

Doch ohne Vergebung gibt es kein Miteinander weder in der Familie noch in der Gesellschaft, weder in der Wirtschaft noch in der Politik. Da wir alle immer wieder aneinander schuldig werden und uns gegenseitig verletzen, brauchen wir die Bereitschaft einander immer wieder zu vergeben. Das meint auch die jesuanische Aussage, dass man dem, der an einem schuldig geworden ist, nicht nur siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal vergeben soll. (vgl. Matthäus 18, 21 )

Der indische Weise Rabindranath Tagore sagt dazu: „Wenn jeder von jedem alles wüsste, würde jeder jedem gerne verzeihen.“

Leider hat eine Kultur des Vergebens, in der auch Fehler sein dürfen, in unserer Zeit keine große Konjunktur. Wer heute einen Fehler macht, wird - zumal in großen Wirtschaftsunternehmen, aber auch in der Politik - schnell abserviert. Dabei meint eine Kultur des Vergebens ja nicht, dass gemachte Fehler unter den Teppich gekehrt werden sollen, aber wer die Verantwortung dafür übernimmt, bereut, sich entschuldigt, und Wiedergutmachung sucht, sollte auch mit Vergebung rechnen dürfen.

Eine Kultur des Vergebens nimmt Rücksicht auf die Schwachheit, Zerbrechlichkeit und Zerrissenheit des Menschen, was klüger wäre als heutige Perfektionsansprüche. Der Apostel Paulus beschreibt diese Schwäche und Zerrissenheit des Menschseins in seinem eigenen Inneren: „Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse ... Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will.“ (Brief an die Römer 7, 15 f.)

Das Thema Vergebung betrifft auch die Wunden der Seele. Viele Menschen hüten Verletzungen in ihrer Seele, die sie nie angeschaut und vergeben haben. Die tiefsten Verletzungen stammen meist aus der Kindheit; es sind Wunden, die das Leben belasten, blockieren oder entscheidungsunfähig machen.

Wer beschämt, in seinem Selbstwert verletzt, nicht ernstgenommen oder ungerecht behandelt wurde, trägt nicht selten ein Leben lang unter dieser Last, sofern es nicht gelingt den Menschen, die ihn verletzt haben, zu vergeben. Wer seine Wunden nicht anschaut und nicht zur Vergebung bereit ist, baut gleichsam einen Staudamm gegenüber dem Fluss des Lebens und der Lebendigkeit; er sperrt seine verletzten Gefühle unter einer Betonschicht ein. Gleichgültigkeit, Bitterkeit, Selbstmitleid oder die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, können die Folgen sein.

Wer vergeben kann, sich selbst und anderen, macht einen Strich unter das Vergangene und fängt neu an. Den Neubeginn, indem ich mir selbst und anderen vergebe, nennt Melanie Wolfers einen Akt der Freiheit; ein kreatives Geschehen, durch welches wirklich Neues geschaffen wird. Wer vergibt, lässt Schritt für Schritt Erlittenes los und kann befreit in die Zukunft schauen. Wer wirklich aus tiefstem Herzen verzeihen kann, erlebt das meist als Geschenk, als Gnade, das sich der eigenen Verfügungsmacht entzieht.

Impulse

  • Welchen Menschen habe ich noch nicht vergeben?
  • Gibt es eine Schuld, die mir noch nicht vergeben wurde?

Literatur

zur Vertiefung (mit konkrete Schritten der Vergebung):

  • Anselm Grün, Vergib dir selbst. Münsterschwarzacher Kleinschriften, Bd. 120
  • Melanie Wolfers, Die Kraft des Vergebens. Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden, Freiburg 2014

(Text von Gustav Schädlich-Buter)