lectio divina - wie die Bibel lesen und verstehen?

Diese Einführung ins Bibellesen ist weitgehend eine Zusammenfassung von: A. Grün, Die Bibel, Mit Einführungen und Meditationen von Anselm Grün; A. Grün, Die Freude wird vollkommen sein, Die Botschaft des Paulus an die Christen in Philippi, Freiburg im Br. 2005, S. 8-21; Marjorie Thompson, Christliche Spiritualität entdecken, Freiburg im Br. 2004, S. 35-46 ) und zum privaten Gebrauch gedacht

1. Die Bibel - das Buch der Bücher

Wohl in kaum einem Buch wird in der Welt häufiger gelesen als in der Bibel. Die Bibel gilt als das Buch aller Bücher.

In der Bibel finden wir wunderbare Geschichten und Erzählungen, Gedichte, Lieder und Gebete, sie ist voll mit Poesie, aber auch in ihren einfachen Erzählungen bringt sie das Leben des Menschen in seiner Beziehung zu Gott zum Ausdruck.

In den Büchern des Alten Testament sehen die Juden das Wort Gottes, dass Er nur zu ihnen gesprochen hat. Die Christen teilen mit den Juden das Alte Testament (besser: Erstes Testament) und verstehen das, was damals geschrieben wurde im Licht Jesu auf neue Weise. Für Christen kommt das Alte Testament durch Jesus Christus zur Erfüllung. Zudem lesen die die Christen das Neue Testament: dort sind die vier Evangelien und zahlreiche Briefe des Apostels Paulus und anderer biblischer Schriftsteller überliefert.

Das Lesen der Heiligen Schrift will erschließen, wer Gott ist und wer der Mensch ist, was das Geheimnis der Schöpfung und des Lebens ist. Die Bibel ist mehr als Menschenwort, sie ist auch Gotteswort. Aber: das Wort Gottes fällt nicht vom Himmel, es wird von Menschen aufgeschrieben, die ihre Erfahrungen mit Gott ins Wort fassen, Doch in diesem menschlichen Wort - so der Glaube - spricht Gott selbst.

Wer die Bibel liest, tut dies meist nicht aus einem ausschließlich literarisch-intellektuellen Interesse, sondern weil er Trost(kommt von Treue =Festigkeit) sucht in Halt- und Orientierungslosigkeit. Fester Halt, Standfestigkeit, ein tragender Grund wird gesucht, in Situationen, die Angst machen und zur Verzweiflung bringen. Das Wort der Heiligen Schrift will einen Gott zeigen, der mitgeht mit meiner Not, einen Gott, der Hoffnung, Zuversicht und Freiheit schenkt und sich als tragender Grund erweist für mein Leben, so dass ich es vertrauensvoll leben kann.

2. Die Bibel – eine fremde Welt!

Nicht wenige Menschen aber tun sich schwer mit der Bibel. Sie verstehen sie nicht. Es ist für sie eine fremde, andere Welt, die sie nicht begreifen. Oder sie lesen die Bibel mit der Brille der Angst und erschrecken vor den manchmal grausam erscheinenden Gottesworten. Doch die Worte der Bibel sind Worte des Lebens, Worte, die Leben spenden wollen, Worte, die den Menschen heilen und aus seiner Zerrissenheit führen möchten. Allerdings kommt es auf die richtige Brille an, mit der wir an die Bibel herangehen. Wenn wir die Bibel richtig verstehen, dann gehen wir mit uns selbst gut um und kommen in Einklang mit uns selbst.

3. Die Bibel auslegen - das eigene Leben verstehen

Manchen helfen zwar inhaltliche Anregungen von Bibelauslegern, um den Text besser zu verstehen. Aber ein Bibelleser sollte nicht einfach nachbeten, was andere Ausleger ihm vorsagen. Jede®, der die Bibel liest, sollte sich selbst mit dem Text auseinander setzen und den Text mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Zwei Fragen können hierzu zunächst hilfreich sein:

  • Was sagt der Text zu mir in meiner konkreten Situation?
  • Finde ich eine Antwort auf die Fragen, die mich gerade bewegen?

(vgl. A. Grün, Die Freude wird vollkommen sein, Die Botschaft des Paulus ... S.8)

In der Theologie befasst sich die historisch-kritische Exegese mit der Auslegung biblischer Texte. Sie studiert die Texte , das historische Umfeld und liefert viele Informationen, die helfen können, den Text besser zu verstehen. Die andere Richtung der Auslegung nennt man Hermeneutik. Das wichtigste Ergebnis dieser Methode lautet: Es ist nicht entscheidend, was sich der Autor eines überlieferten, alten Textes genau gedacht hat; entscheidend ist, dass mir dieser alte Text heute gegenübersteht und ich mein Leben im Licht des Textes neu verstehe.

Den Text verstehen heißt immer auch, sich selbst besser verstehen.

Der Philosoph Hand Georg Gadamer spricht von „Horizontverschmelzung“, womit er meint, dass beim Lesen eines Textes der Horizont meines Selbstverständnisses verschmilzt mit dem Horizont, der der Text eröffnet.

Verstehen heißt immer auch: einen neuen Stand bekommen, sich klarer werden über sich selbst und den Mut finden zu sich selbst zu stehen. (A. Grün, a.a.O., S9)

Wenn ich also einen biblischen Text lese, sollte ich mehr als auf die historischen oder redaktionellen Fakten des Textes darauf achten, was die Worte in mir in Bewegung bringen, wo sie mich berühren und welchen neuen Horizont sie mir eröffnen.

4. Die Bibel verstehen - ihre Bilder betrachten

Beim Verstehen und der Auslegung der Bibel kann es besonders helfen, die Bildhaftigkeit ihrer Sprache ernst zu nehmen. Bilder sind wie Ikonen oder Fenster, durch welche wir das Geheimnis unseres Lebens und das Geheimnis Gottes ahnen können. Die Betrachtung biblischer Bilder und Bildworte beugt zudem der Gefahr vor, sich in Rechthaberei um die richtige Auslegung zu verstricken. Beim Bibellesen geht es nicht Rechthaberei, sondern um die Begegnung mit dem lebendigen Gott, der in den biblischen Bildern aufleuchten kann. (Grün, a.a.O., 11)

5. Die Bibel betrachten - die lectio divina

Die frühen Mönche haben eine eigene Methode entwickelt, die biblischen Texte zu lesen und zu betrachten. Es ist die von Origines entwickelte Methode der lectio divina, eine spirituelle und mystische Schriftbetrachtung und -auslegung. Diese Art und Weise an die Bibel heran zu gehen, lässt sich nicht von der Frage leiten: „Was soll ich tun?“, sondern von der Frage: „Wer bin ich?“

Die biblischen Texte werden als Bilder verstanden, die mir das Geheimnis meines Weges zu Gott erschließen wollen. Die Lectio divina („göttliche Lesung“) kennt vier Schritte:

  1. Die Lesung (lectio)
  2. Die Besinnung (meditatio)
  3. Das Gebet des Rufens (oratio)
  4. Das Gebet des Ruhens (contemplatio)

Schritt 1: Die Lesung

Der erste Schritt besteht in der Lesung. Es geht um ein langsames, besinnliches Lesen, langsam von einem Gedanken zum anderen; ein Lesen mit dem ich nicht meine theologischen Kenntnisse erweitern möchte, sondern ein Lesen bei dem das Ziel ist, sich vom Wort Gottes treffen zu lassen. Ein Lesen, das eher ein Verkosten ist so wie wenn man einen Liebesbrief liest. Und so: als ob man förmlich darauf wartet, dass Gott einem direkt und ganz persönlich etwas sagen will. Das, was man gesagt bekommt, muss nicht unbedingt angenehm sein, sondern kann auch schmerzliche Aussagen enthalten, die in Liebe formuliert sind. Ans Lesen sollte man also mit der Frage herangehen: „Gott, was willst du mir hier und jetzt sagen?“

Schritt 2: Die Besinnung (meditatio)

Damit ist in der frühen Kirche die einfache Wiederholung des Wortes gemeint, das in der Lesung empfangen wurde. Ich lasse das Wort, das mich berührt oder getroffen hat in mein Herz fallen, ich wiederhole es, ich kaue es wieder (die frühen Kirchenväter nannten die Meditation auch ruminatio - das heißt wörtlich: wiederkauen) und schmecke es, im Geist oder sogar mit den Lippen, ich nehme es mit in meine Alltagstätigkeiten. Es geht also darum, das empfangene Wort zu bewahren und im Herzen zu bewegen (vgl. Lk 2,19), dass es die Tiefen der Seele immer mehr durchdringt. Es bewirkt im Menschen einen guten Geschmack der Liebe, des Friedens und der Freude.

Die jüdisch-christliche Meditation verlangt einen aktiven Geist, der sich spezifisch betätigt, nicht kritisch-analytisch, sondern konzentriert auf die Frage, wo man selbst als Leser im Text vorkommt. Dabei kann die aktive Imagination gelegentlich helfen, um Zusammenhänge zwischen der eigenen Lebensgeschichte und der großen Geschichte (von Gottes Erlösungs-und Befreiungshandeln) herzustellen und das „Herz“ im biblischen Sinn zu aktivieren, in dem Erinnerungen, Gefühle, Hoffnungen, Sehnsüchte, Intuitionen ... zusammenwirken.

Schritt 3: Das Gebet (des Rufens) (oratio)

Es meint das Gebet, das sich ganz natürlich aus der Besinnung ergibt, eine spontane Antwort aus das Gelesene, ein Gebet, in dem ich meine Sehnsucht nach Gott mit allen meinen Gefühlen (Dankbarkeit, Erregung, Angst, Freude, ...) und Affekten (auch Schmerz, Wut, Frustration, ...) zum Ausdruck bringe. Die Oratio im Sinn der geistlichen Schriftlesung ist der direkte Schrei des Herzens zu Gott (wenn ich persönlich vom Wort angesprochen wurde, wenn eine wunde Stelle meines Lebens berührt wurde, wenn mich etwas reut, wenn mich etwas freut ...)

Schritt 4: Das Gebet des Ruhens (Einswerden) (contemplatio)

Die Worte, die uns berührt und angesprochen haben, haben uns in die Stille geführt, in den Worten hat uns Gott selbst berührt. Kontemplation bedeutet eigentlich (vom lateinischen contemplari): „schauen“ oder „Beschauung“. Ich schaue auf den Grund des Seins, ich erkenne nicht etwas Begrenztes, sondern schaue alles auf einmal, nicht nacheinander, ich blicke durch, mir ist alles auf einmal klar. Ich kann mein Leben nicht erklären, aber in der Tiefe meines Herzens weiß ich: es hat sich alles geklärt, alles ist gut so, wie es ist. Kontemplation ist Zustimmung zum Sein, ist Ruhen, Spielen, Sabbatfeiern in Gottes Gegenwart. Der Psalm 131 drückt das Wesen der Kontemplation gut aus: „Ich ließ meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.“ (Psalm 131,2) Und Isaak von Ninive meint, das Wort Gottes würde uns die Tür aufschließen zum wortlosen Geheimnis Gottes.

In der christlichen Tradition gibt es noch ein andres Bild die lectio divina in ihrer Eigenart mit allen ihren Schritten zu beschreiben:

„ Stellen Sie sich eine Kuh auf der Weide vor. ´Zunächst zieht sie über die Wiese und rupft das Gras ab (lectio), dann legt sie sich im Schatten eines Baumes nieder und käut das Aufgenommene wieder (meditatio); schließlich produziert sie daraus Milch (oratio) und Sahne (contemplatio).`“ (Marjorie Thompson, Christliche Spiritualität entdecken, Einübung in ein bewusstes Leben, 2004, S.46)

6. Die Bibel heute meditieren

Wer heute die Bibel lesen und meditieren will, muss nicht unbedingt die vier Schritte der frühen Mönche gehen. Doch wichtig an dieser Methode ist, dass wir die Worte der Schrift in unser Herz eindringen lassen, so dass sie sich in unser Unbewusstes (besser: Tiefenbewusstsein) einprägen.

Viele, besonders fromme Christen, gehen beim Bibellesen schnell auf eine moralisierende Ebene, setzen sich unter Druck und folgern aus der Schriftlesung: Eigentlich müsste ich ganz anders leben und handeln und auf mein Ego völlig verzichten! Solche Sätze hinterlassen im Leben nur ein schlechtes Gewissen angesichts der Unerfüllbarkeit der Vorhaben und sind nicht hilfreich.

Die Verwandlung, welche die lectio divina anzielt geht nicht über den Willen und die guten Vorsätze, sondern über den Weg des Wortes, das in mein Herz fällt und mich in Berührung bringt mit der Freude, der Liebe und dem Leben, das Gott mir schenkt, mit Jesus Christus, der schon in mir wohnt, von dem ich aber allzu oft abgetrennt bin.

Anselm Grün rät denen, die über die über die Worte nachdenken wollen (im Kopf), den Worten der Hl. Schrift auch wirklich zu trauen und sich die Zweifel, ob das alles stimmt, für morgen aufzuheben: „Ich traue den Worten und experimentiere damit, wie ich mit ihnen leben kann.“ Wer seine eigene Weise gefunden hat, mit der Bibel umzugehen, soll seinen Gefühlen trauen.

Empfehlenswerte Bibelausgaben:

  • „Einheitsübersetzung“ Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung.
  • „Lutherbibel“ Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierte Fassung von 1984
  • „Zürcher Bibel“ Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments.
  • Neue Jerusalemer Bibel“ Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel.

(Text von Gustav Schädlich-Buter)