Advent I

So mancher Patient/-in schreit in die Nacht hinein: „Wo bist Du, Gott?“ „Sei endlich, Gott!“ „Warum hast Du mich verlassen?“ „Gibt es Dich überhaupt?“

Dass dies nicht nur Anfragen von gottlosen Atheisten sind, sondern vom Glauben zutiefst bewegte Menschen, zeigen die 2007 im Time Magazin erschienen Tagebücher von Mutter Teresa; sie hat in ihrem inneren oft Leere und Dunkelheit erlebt, hat tiefe Glaubenszweifel durchlitten: „Es herrscht eine solche Dunkelheit, dass ich wirklich nichts sehen kann. In mir ist kein Gott ... Der Himmel ist allseitig verschlossen.“ (vgl. Christian Feldmann, Die Liebe bleibt..) Immer wieder fühlt sie sich von Gott „ungewollt, ungeliebt und nicht gebraucht“ wie die Elendsgestalten auf den Straßen Kalkuttas.

Der Theologe F. Steffensky (vgl. Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens) spricht davon, dass es zweierlei Würde gibt. Das eine ist die Würde der Untröstlichkeit, bei der einer nicht darüber hinwegkommt, was dem Leben angetan wurde; und wenn er selbst mit einem blauen Auge oder wie durch ein „Wunder“ davon gekommen ist, so beweist das gar nichts. Warum, so frägt sich jener, ist das Wunder an so vielen anderen Stellen ausgeblieben? Warum sind so viele Lahme lahm und so viele Blinde blind geblieben? Warum so viele Kranke- sogar junge und solche, die Verantwortung für eine Familie hatten, nicht wieder gesund geworden? Warum erleiden jede Sekunde, auch im Moment, wo ich diesen Text lese oder schreibe, Menschen auf der Welt Demütigung, Schmerz, Hunger oder Unrecht?

Das Leben geht nicht auf, schon gar nicht für den Christen.

Die Würde der Untröstlichkeit, hat ihr Fundament in einem Glauben, der Gott nicht im triumphalistischen Sieg, in der Überwindung der Naturgesetze - das Neue Testament kritisiert übrigens an vielen Stellen die Wundersucht der Menschen, die nur glauben wollen, wenn sie Zeichen sehen - in der heldischen Unverwundbarkeit sucht und erkennt. Kein Gott also, der im Drachenblut gebadet, sich unangreifbar gemacht hat, sondern ein Gott, den wir am Kreuz wiederfinden; ein Gott, der wie viele von uns auf`s Kreuz gelegt wurde, an dem keine Wunder geschehen sind und der verspottet wird: „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten“. Ein geheimnisvoller Gott, der gerade dadurch Gott zu sein scheint, dass er den Menschen in ihrem Leid nahe ist.

Die andere Würde von der Steffensky spricht ist die „Würde der unbewiesenen Behauptungen“ wie sie z.B. im Text des Jesaja (vgl. Jesaja 35,1 f.) vorkommen: Einmal wird es sein! Einmal wird es sein, dass die Steppe blüht, der Lahme läuft, der Taube hört und der Blinde sieht...Die Sprache des Glaubens sagt: Gott rettet, heilt und tröstet, sie will das Versprechen nicht aufgeben, das den Gequälten und Leidenden dieser Erde gegeben wurde: Fürchte Dich nicht, ich bin da, ich rette Dich! Wenngleich es wahr ist, dass Gott selbst Opfer ist, unter die Räuber fällt und am Kreuz angenagelt wird, so wahr ist es - behaupten jene alten Texte, dass Gott kommen wird, die Wunden zu verbinden, die Tränen abzuwischen und die Toten zum Leben zu erwecken. Das ist der unbescheidene Anspruch von Leidenden, Sterbenden und Toten.

In uns Menschen steckt eine Sehnsucht, die sich nicht abfinden will mit dem, wie es ist: z.B. dass wir unser Leben nicht mehr zusammen bringen, dass uns der Lebenssinn entglitten ist, dass unsere Liebe erkaltet ist und das damit verbundene Unglück uns gewalttätig, depressiv oder physisch krank gemacht hat. „Das kann doch nicht alles gewesen sein“, frägt sich so mancher.

Die Fähigkeit zum „Träumen“ und zur Vision, die Lebensperspektiven, Aussichten und Lebensoptionen beinhaltet, hebt den Menschen über die Fakten der bestehenden Realität hinaus und öffnet Türen. „Ich habe einen Traum ...“, sagte vor einigen Jahrzehnten Martin Luther King und sein Traum wurde wahr, auch wenn er ihn mit seinem Leben bezahlt hat.

Im Gesang und Gebet, in den adventlichen Texten des Jesaja, die aus der erlittenen Entbehrung und der Sehnsucht heraus geschrieben sind, geschieht ein unverschämter Ausgriff auf die Güte , Fülle und Schönheit des Lebens. Eine Güte, die uns wiederbegegnet, wenn wir uns vom Blick des "Kindes" in der Krippe treffen lassen.

Es ist eine Würde und Kraft in diesen Verheißungen, die unsere innerste adventliche Sehnsucht wecken: die Sehnsucht nach Heil-werden und Erbarmen; danach, dass wir unser aus den Fugen geratenes Leben wieder zusammenbringen. Eine Sehnsucht, die uns hilft, dass wir uns durch die wunderlos bleibenden Wüsten des Alltags und die Nächte der Krankheit und Beschwernis schleppen können ohne die Hoffnung zu verlieren.

Sehnsuchtstexte sind Nahrung für die Seele und Hoffnungsreservoir in der Dunkelheit und Ausweglosigkeit der scheinbaren Realität.

Für den Glaubenden darf beides in seiner Widersprüchlichkeit (gleich einem christlichen Koan) nebeneinander stehen: die Würde der Untröstlichkeit und die Würde jener Visionen. Das untröstliche Leiden am „Un-leben“ in der Welt und das Preisen und Loben Gottes, als wäre das Reich Gottes schon angebrochen.

Impuls

  • Lesen Sie den Text von Jesaja 35,1-10 und lassen Sie den Text auf sich wirken

Literatur

  • Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2002

(Text von Gustav Schädlich-Buter)