Barmherzig werden

„Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und wurde von Erbarmen bewegt, lief hin, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lukas Kap.15)

Das Wort Barmherzigkeit kommt heute in unserer Alltagssprache kaum mehr vor. Was bedeutet dieses Wort?

Dazu eine Geschichte, die kurz gefasst, etwa folgenden Inhalt hat: ein Sohn will aus der Welt seines Vaters ausbrechen und seine eigenen Wege gehen. Dazu verlangt er die Auszahlung seines Erbes, was ihm von jenem auch gewährt wird. Er macht sich auf und davon, geht ins Ausland, doch bald ist das ausgezahlte Vermögen durchgebracht - wahrscheinlich verjubelt bei zügellosen Festgelagen mit Dirnen und Saufkumpanen. Als er schließlich völlig heruntergekommen, sich in einem elenden Zustand wiederfindet, kommt er ins Nachdenken. Sein Tun reut ihn und er erinnert sich an früher; dort auf dem Gut seines Vaters geht es doch selbst dem niedrigsten Personal besser als ihm. Also fasst er den Entschluss nach Hause zu gehen und seinen Vater zu bitten, ob er ihn nicht wenigstens als Hausangestellten beschäftigen könne. Unerwartetes geschieht: „Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und wurde von Erbarmen bewegt, lief hin, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ Und nicht genug damit, der Vater lässt für den zurückgekehrten Sohn auch noch ein großes Fest ausrichten, kleidet ihn neu ein, steckt ihm einen Ring an die Hand und gibt ihm seine Position als Sohn zurück.

Diese Geschichte (wer möchte, lese im Neuen Testament bei Lukas Kap.15, 11f. ), hat Rembrandt zu einem seiner berühmtesten Bilder mit dem Titel „Der verlorene Sohn“ inspiriert.

Kaum eine Geschichte kann besser erklären, was es mit der Barmherzigkeit auf sich hat. Dieses heute aus der Mode gekommene Wort wurde oft missverständlich beschrieben: als Mitleid, als mildtätige Gönnerschaft, als Herablassung von einem, dem es gutgeht zu einem Bedürftigen, der es nötig hat. Um was geht es also bei der Barmherzigkeit?

Das hebräische Wort für Barmherzigkeit „rachamamim/rechem“ bedeuten wörtlich übersetzt die „Eingeweide“ und der „Mutterschoß“. Barmherzigkeit führt zum Ursprungsort des Lebens, hat etwas damit zu tun, ein Kind auszutragen, ihm zugewandt zu bleiben trotz Übelkeit in der Schwangerschaft und vielerlei anderer Beschwerden; es schließlich unter Schmerzen zu gebären. Barmherzigkeit geht also ganz tief in den körperlich-seelische Bereich, ist im Innersten des Menschen anzusiedeln, dort wo Leben entsteht und heranwächst. „Und seine Eingeweide glühten ihm zu ...“, heißt die wörtliche Übersetzung in der Gleichniserzählung, als der Vater seinen heimkommenden Sohn sieht. Glut und Feuer drücken Leidenschaft, Lebendigkeit , Liebesfähigkeit und innere Teilnahme aus.

Eltern wollen in der Regel, dass es ihrem Kind gut geht und manchen dreht es die Eingeweide um, wenn sie sehen, dass ihr Kind leidet oder auf Wege gerät, die es zerstören, dass sie auf Irrwege im Blendwerk vielfältiger Glücksversprechungen geraten. Barmherzigkeit ließe sich also auch als Liebe, die aus der Tiefe kommt, als unumstößliche Treue und verlässliche Zuwendung übersetzen, selbst dann, wenn die Freiheit vom Kind missbraucht wird.

Jesus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Vater, um zu sagen, so ist Gott: wie ein Vater, wie eine Mutter - in seinem Innersten, in seinen Eingeweiden, in seiner Gebärmutter berührt, mitfühlend uns zugetan und großzügig im Vergeben. Keiner soll an seiner Schuld und seinen Versäumnissen ersticken müssen, jede und jeder soll die Chance zum Aufatmen und zum Neuanfang bekommen. Angst und Scham, die Befürchtung, unwürdig , fehlerhaft oder dumm zu sein, sollen dieser menschenfreundlichen Botschaft von Gott weichen, der Geduld mit uns hat und voller Erbarmen für uns ist.

Die heutige Geschichte ermuntert dazu, barmherzig zu werden wie Gott mit uns barmherzig ist. Uns selbst und anderen mit Wohlwollen und Freundlichkeit zu begegnen, einander angesichts der eigenen Fehler und Irrwege nicht zu verdammen. Denn von fehlerlosen, eingebildeten und perfekten Menschen, die immer alles richtig gemacht haben, ist wohl selten Barmherzigkeit ausgeströmt.

Impuls

  • Ich meditiere Lukas 15,1-10 und versuche dabei sowohl in die Rolle des Sohnes wie in die des Vaters zu schlüpfen? Wie geht es mir dabei? Welche Gefühle werden ausgelöst?

Literatur

  • Henri J.M. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz, Geistliche Deutung eines Gemäldes von Rembrandt, 1991

(Text von Gustav Schädlich-Buter)