Eigen-Sinn

Das ist zunächst die Freude des Kindes an seinem „Eigenen“- an seinem Bild, an seiner Phantasie und Sprache, an seiner Gebärde ...; die Freude an der lustvoll erfahrbaren Freiheit in der Gestaltung, die Freude an der Demonstration eines: Schau her, das ist meins, das bin ich“.

Erlebt ein Kind, dass sein Eigen-Sinn akzeptiert wird, wird es auch den Eigen-Sinn anderer leichter akzeptieren. Leider reden oft sehr bald Eltern und Erzieher, Lehrer und Lehrerinnen in das Eigensinnige hinein, entwerten es dadurch, beschämen das Kind. Durch frühe Zensuren, Belehrungen und Reglementierungen wird die Freude am Eigensinn ausgetrieben, die Phantasie – die Romantik noch hatte die „produktive Einbildungskraft“ als hohen Wert betrachtet - zubetoniert und das Gefälligkeitsbild ersetzt den persönlichen Ausdruck. Sehr bald sagen Kinder dann nicht mehr: „Schau, das ist mein Bild“, sondern: „Mein Bild ist - weil alle Bilder inzwischen ununterscheidbar gleich „gefällig“ sind - besser!“ Leistungsdruck und Konkurrenz sind Gift für den persönlichen Ausdruck.

Eigen-Sinn beleben - das könnte bedeuten, zunächst einmal zu merken, wo ich überall gefangen bin: die illusionären Systeme von Macht, Hackordnung, Überlegenheitsgefühl, das auf dem Sündenbockmechanismus beruht: „Ich bin gut, weil jemand anders schlecht ist.“ Oder: „Ich bin auf der Überholspur des Lebens, weil ich die größere Leistung bringe.“

Der Theologe H.E. Bahr erzählt von einem Freund, der eine Spitzenposition in seiner Firma innehat, der als Machtmensch bekannt ist, und der sich von heute auf morgen entscheidet, freiwillig zum Unterabteilungsleiter ohne Weisungsbefugnis abzusteigen; nicht mehr befehligen, nur noch raten, wer seinen Rat freiwillig hören will. Von einem auf den anderen Tag ist ihm die Nähe zu Kollegen, die gute Lebenszeit wichtiger als die Macht. Dieser Mann tut seinen Schritt unheroisch, er ist einfach froh nicht nur Respekt, sondern auch Sympathie von seinen Kollegen zu bekommen. Aufhören nach oben zu wollen, die Freiheit und der Mut des Unterlassens in der Forschung, der Medizin, der Lehre, des Unterlassens, was nur dem Geldscheffeln und der Vernichtung dient, auch das hat viel mit Eigen-Sinn zu tun.

Eigensinn bedeutet: ich traue mich, im großen Orchester meine eigene Stimme anzuschlagen, meine Geige zu spielen, auch wenn sie krächzt und nichts „Großartiges“ oder „Besonderes“ zum Ausdruck bringt. Eigen-Sinn, dass heißt zugeben, das ich nicht das Ganze bin, dass ich nur teilhaftig bin, dass ich Angst habe vor meiner Ersetzbarkeit und Sterblichkeit. Und dass ich trotzdem meine Stimme klingen lasse. Niederlagefähig werden und wieder aufstehen, an einer kleinen Stelle etwas Schöpferisches vollbringen - das hat viel mit Eigen-Sinn zu tun.

Vor dem Ende sprach Rabbi Susja: „In der kommenden Welt wird man nicht fragen: ´Warum bist du nicht Mose gewesen?` Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Susja gewesen?´`

Impulse

  • Durfte ich als Kind eigensinnig sein?
  • An welcher Stelle meines Lebens war ich „eigen-sinnig“ und das war gut so?

(Text von Gustav Schädlich-Buter)